Ferdinand Vicončaij

Mythen der Zukunft

Kindergeschichten für Erwachsene

Ausstattung

Einband: Hardcover mit Fadenheftung und Lesebändchen; Seiten/Umfang: 248 S.

ISBN

978-3-943897-69-2

Preis

29,90 Eur (D) mit MWSt.

Bezug

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Es sind "Kindergeschichten für Erwachsene", gerade für solche, die wenig Zeit haben, denn die meisten Erzählungen und Mythen, Märchen, Erzählungen und Gedankenspiele hier sind kurz. Darunter "Storchengeschichten" – phantasievolle Lügen – aber auch „Wahrheiten“, die im Gestus der Unzuverlässigkeit "getarnt" sind.
Die Themen hinter dem teils spielerischen Ton sind ernst und betreffen ewige Fragen um die „conditio humana“ ebenso wie derzeit virulente Problematiken der Ressourcenausbeutung, des Klimawandels, der Gewalt und der sozialen Ungleichheit. Der vordergründig teils naiv unterhaltsame, teils ironisch offensive Umgang damit löst die Probleme nicht, offeriert dem aufmerksamen Leser aber ungewohnte Perspektiven und plastische Bilder zu Themen, die heute viele Menschen beschäftigen.
Es wurde für dieses Buch ein spezielles Layout erarbeitet, das der kontemplativen Seite der Texte viel Raum gibt.

 

Inhalt

dankwort

aus alter zeit
Der Urknall
Gal, Albe und andere
Die vielbrüstige Göttin

zwiespältige späße
Einladung
In einen Käfig setze ich dich
Was ist postmodern?
Die Wahrheit über die Hölle
Lebendiges Wasser – Fragmente einer Predigt
Von der heutigen Jugend wird gesagt...
Verschwörung

aus alter zeit
Der Gott, der sich langweilte
Die Balance der Zeit
Die Dialektik der Kräfte

märchen
Der Tortenralph
Annegret und Hans
Der Sohn

aus alter zeit
Der Himmelssturm
Der Gott der Provisorien
Buros, der langweilige Gott
Der entstellte Gott

märchen
Der Mann und die Schöne
Happy without end
Der Gerechte
Das Genie

aus naher zukunft
Arbeit
Christi Wiederkehr

aus altferner zukunft
Der Gott und die Flöte

nachwort

Zum Autor
Ferdinand Vicončaij

Interview mit dem Autor

Zum Erscheinen der „Mythen der Zukunft“: Friedrich Hausen führt ein Gespräch mit Ferdinand Vicončaij (geführt Januar 2022)

Hausen: Ihr erstes Buch liegt nun vor. Wie kam es denn zu dem Titel „Mythen der Zukunft“?

Vicončaij: Die Datei mit dem Titel bestand seit 2011, wo ich kurzfristig in Kutte eine Lectureperformance im Kulturparkplatzkontext übernommen hatte. Es ging um die Hölle, Gott und Teufel. Und von den Höllentexten hat nur einer am Ende den Weg ins endgültige Manuskript überlebt. Den Titel „Mythen der Zukunft“ hatte ich sehr kurzfristig für die Internetveröffentlichung dieses einen überlebenden Höllentextes gewählt. Mir gefiel es, zu suggerieren, dass die Mythen nicht zu Ende sind, sondern Zukunft haben. Und zu behaupten, dass ich diese Mythen sammeln würde…

Hausen: Viele der in Ihrem Buch versammelten Texte sind zuerst in Kunstkontexten zu sehen oder zu hören gewesen, wie Sie im Dankwort sagen.

Vicončaij: Dieser Hintergrund ist für die Gestalt des Buches prägend. So wurden die meisten Göttererzählungen Anfang 2014 für eine Veranstaltung im Zentralwerk geschrieben, die den Anfang eines neuen Ortes zum Motto hatte. Es war ein Ball, mit Tanzdarbietungen und viel Musik. Die Mythen wurden in Gruppen unterteilt und von Mitgliedern von „Theatrale Subversion“, einem Theaterkollektiv gesprochen. In einem schwarzen Kasten, mit einer Kamera, und Bildschirm, der sie dann indirekt sichtbar machte. Damit wurde der Abend strukturiert. Mit fast jedem Mythos begann die Welt neu, begann der Anfang neu. Die Struktur ist für das Buch übernommen. Auch hier bilden die Mythen den Rahmen. Dieses immer wieder von Neuem Entstehen ist auch hier tragend.

Hausen: Einer der Texte, die „Einladung“ war 2010 in einer Ausstellung in der Geh8 zu sehen, in einem Rahmen gegossen. Ich erinnere mich daran, da ich selbst eine Begleitreflexion zur Ausstellung schrieb. Und Ihr Lesebild, in der sich die Ausstellung annulliert, war gleichsam der verbale Vollzug des Ausstellungsprogramms, das „Back to the drawingbord“ hieß.“

Vicončaij: Eckhard Fuchs hatte mich dazu eingeladen, einen Text als Bild in die Ausstellung aufzuhängen. Das war überhaupt mein erster Beitrag in einem Kunstkontext. Dasselbe „Bild“ hing übrigens letzten Sommer in einer Ausstellungsbude im Zentralwerk.

Hausen: Und wie kamen andere Texte zustande?

Vicončaij: Es gab verschiedene Anlässe. Aber viele der Märchen entstanden ohne äußeren Anlass. Benno Blome, ein Künstler, der in Karlsruhe lebt, hatte eine Zeitlang Märchen geschrieben, in denen immer wieder das Böse auf perfide Weise siegt, das Dumme recht behält. Die Idee des Unaufgelösten Falschen inspirierte mich, entsprechende Stücke auf meine Weise zu schreiben. Bei einer Ausstellung von Benno 2015 in Karlsruhe hatten wir dann von einer kanzelartigen Höhe aus dem Obergeschoss stündliche Lesungen von Mythen und Märchen durchgeführt. Damit konnte ich ihm gewissermaßen etwas von seiner Inspiration zurückgeben.

Hausen: Was brachte Sie denn auf den Gedanken, verschiedene Texte gesammelt zu präsentieren und in einem Buch herauszubringen?

Vicončaij: Ich habe ja einige größere öffentliche Aktionen mitgemacht, wo ich leider keine Ressourcen hatte, mich mehr um die Einbettung und Präsentation zu kümmern. Es gab die öffentlichen Aktionen, so. z.B. die „Moralisation“ im Rahmen von Paul Elsners monumentaler „Restzeichen“-Installation, wo auf einem 9 Meter großen LED-Leuchten-Plakat auf einem Gebäude des Kraftwerk Mitte. Da wurden Besinnungsbotschaften, gebrochen durch die LED-Anzeige, in die Pegidaaltstadt gesandt. Der Rahmen war schön programmiert: Worte zerfielen in Strichwolken und entstanden wieder daraus. Oder es gab eine „Litanei der Angsthasen“ auf dem Neumarkt, mit Heinz Schmöllers 6 Meter großen Hasen und einem Text zum Mitsprechen für die Masse, der eine Entpolarisierungsoffensive versuchte. Der poetische und politische Gehalt dieser Aktion und des Textes verklang in den Eigendynamiken des Geschehens. Und im Nachgang wuchs der Wusch, dass ich mich einmal mehr um eine Rahmung und gezielte Präsentation kümmern wollte. Ein Buch samt seiner Präsentation bietet die Möglichkeit, Spuren zumindest einiger früherer Aktionen nun für längere Zeit einzurahmen. Zugleich ist es für mich ein Anfang, insofern ich jetzt zum ersten Mal nicht nur einen Beitrag in größeren Kontexten liefere, sondern selbst auch den Kontext, das Buch liefere.

Hausen: Bei Ihrem Zentralwerkbüro um die Ecke gibt es einen feinen Verlag, Edition Azur. Hatten Sie dort ihr Skript angeboten?

Vicončaij: Nein.

Hausen: Warum gingen sie nicht dorthin, sondern zu Text & Dialog.

Vicončaij: Edition Azur haben einen kleinen Kreis stilistisch profilierter Dichter zusammengebracht. Ich bewege mich mehr in Kunst- und Musikkontexten als in der Literatur. D.h. mit der eigentlichen Literaturszene bin ich bin ich bisher nicht verbunden. Und im Vergleich zu vielen Autoren kleiner Prosa, deren Stilgestalt feinstoffliche Qualitäten zeigt, arbeite ich gerne mit Klischees, mit groben Strichen und prallen Farben, was ohnehin in einer Spannung zur Hochliteratur steht.
Dass ich nun zu Text & Dialog ging, liegt aber vor allem einfach daran, dass ich gefragt wurde. Ich frage nicht gerne, sondern werde gerne gefragt. Und das Konzept war noch nicht fertig, manche Texte waren noch nicht fertig. Ich brauchte einen Verleger und Lektor, um im Gespräch konzeptuelle Entscheidungen reifen zu lassen. Und Text & Dialog haben bereits philosophische Bücher und einige Künstlerbücher, die thematische überschneidungen mit meinen Geschichten enthalten. Für erzählende Literatur macht mein Buch den Anfang, d.h. hier gibt es noch keinen Verlagsstil, an den ich meine Texte und die Präsentation irgendwie hätte anpassen müssen. Freiraum und lektorierende Begleitung konnte mir René Kaufman von Text & Dialog anbieten. Aber auch ein Experimentierinteresse: Ich kenne ihn seit einigen Jahren und habe wiederholt seine Enttäuschung erlebt, wenn Autoren experimentellere Coverentwürfe zugunsten klassischerer zurückwiesen. Da konnte ich jetzt sagen; René, wenn wir etwas zusammen machen, können wir experimentieren. Und, was besonders gut war: Zugleich hatte er eine Finanzierung eingeworben. Und da ich einige Bücher von ihm kannte, wusste ich, dass er sehr schöne Layouts schaffen kann. Ich sagte ihm auch, dass ich möchte, dass das Buch auf halber Strecke zu einer Art Gebetbuch wäre, mit der Aura eine Meditationsgegenstands...

Hausen: Sie sprachen mal von emphatisch von einem „Auszug aus der Postmoderne“, den Sie betreiben wollten, von einer „Karikaturabbau“, den Sie betreiben wollten. Die Mythen der Zukunft erscheinen hingegen wie ein Steinhaufen aus Karikaturen, und die Ironie und Sinnambivalenz ist so viel präsent, als wollten Sie die volle Postmoderne jetzt erst ausrufen…

Vicončaij: Meine Idee war, die postmoderne Relativierung so weit zu führen, dass sie sich selbst relativiert. Die verschiedenen Seiten, überzeugungen, politischen Kampfparolen relativieren, ja ironisieren sich gegenseitig, und am Ende bleibt etwas bestehen, was von niemandem vertreten wird. Es bleibt in einem Schweigen etwas, das der Ironie entgeht. Das ist zumindest ein Beginn des Auszugs aus der Postmoderne. Vielleicht aber ist mir das nur halb gelungen. Oder du hast zu ungeduldig auf theoretischen Output gewartet…

Hausen: René Kaufmann, der Verleger ist selbst ursprünglich Philosoph, war lange Assistent am Lehrstuhl für Religionsphilosophie. Wie hat er auf Ihre Texte und konzeptuellen Ideen reagiert.

Vicončaij: Seine Haltung war immer unterstützend, mit Blick auf ein vertretbares Resultat. Doch schien ihm einiges heikel und ich bin nicht sicher, inwieweit er meinem Konzept folgen konnte. Ich arbeite ja meist mit einem Baukastenprinzip, in dem verschiedene Elemente konsequent verfolgt und kombiniert werden. Oder mit einer Dynamik ohne Gegenpol, die sich einseitig in eine Richtung stößt und durch nichts abgefangen wird. Da entsteht dann der Bruch durch das Fehlen des Bruchs… Und ich suche eine Balance und Dialektik zwischen Ordnung und Chaos, zwischen nachdenklicher Stille und Getöse. Auch die emotionalen Rhythmen, die mir bei der Anordnung der Texte wichtig waren. Oft werden mir diese Aspekte wichtiger als die Inhalte der Texte. Um philosophische Ansprüche habe ich mich im Schreiben fast nie gekümmert…

Hausen: Haben Sie sich selbst die Frage nach der Berechtigung gestellt, ich meine hinsichtlich der Veröffentlichung des Buches? Bücher gibt es ja mehr als genug. Und ein literarischer Ausdruck von Zwiespältigkeit scheint jetzt nicht ohne Weiteres ein großer Gewinn zu sein…

Vicončaij: Ja. Warum nicht einfach meditieren, und die unlösbaren Konflikte sein lassen. Warum nicht sich politisch engagieren und Konflikte zu lösen versuchen und meine ambigue Literatur, die oft nur ein halbes Verstehen ist, sein lassen? Tatsächlich glaube ich, dass diese Rechnung nicht aufgeht, dass die Literatur, die hadert und unfertig und auf dem Weg ist, ihre Rolle nicht verliert. Wir werden nie weise genug sein, um auf sie verzichten zu können. Zwiespältiges Leben kann durch zwiespältiges Denken verstanden werden...

Hausen: Ihr Buch hat in seiner Vielfalt von Textformen ohnehin eine eigenwillige Gestalt. Wie hat das die Zusammenarbeit mit dem Verlag beeinflusst?

Vicončaij: Ich suchte eine Form für das Buch, in der sich die vielen Weltschöpfungen und Weltuntergänge nicht gegenseitig stören, aber über einen gewissen Abstand, untereinander und mit anderen Texten vernetzen können eine übergreifende Entwicklung entfalten. Wir sprachen auch über Formen mit flexiblem Textlayout, wo den sehr verschiedenen Textformen gerecht werden zu können. Die Zeit für die Veröffentlichung war sehr knapp und ich erprobte verschiedenen Reihenfolgen, wo ich Gruppen an Märchen, Mythen und Sonstigem zusammenordnete, dabei Gemeinsamkeiten der Thematik, des Tons und der Form berücksichtigte. Es setzte sich eine Fassung durch, wo am Anfang die einfachen Schöpfungen des Alls, im zweiten Mythenblock Dialektiken zwischen Gegensätzen, die Lebendigkeit ausmachen, und dann kommen im vierten Block geschachtelte Geschichten, die für speziellere Kulturformen stehen. Bei den Märchen gibt es nur zwei Blöcke, wobei der zweite nur ein Modell der übersteigerung bis zum Abheben immer wieder durchexerziert, vom kürzesten, bis zum längsten Märchen. So hatte ich bestimmte Rhythmen für die Anordnung und ein flexibles Layout schien mir nun unnötig. Dann kam René Kaufmann aber doch mit ausgefallenen Layoutentwürfen, die mir zunächst Bauchschmerzen bereiteten. Er hatte sich von Layoutideen Anne Carsons inspirieren lassen, die wir zunächst im Gespräch gehabt hatten. Sie funktionierten nach einigen sensiblen änderungen dann aber doch besser als die konservativeren Alternativen. Ich fand im Wiederlesen, dass mit dem Layout die nachdenklichen einen Resonanzraum bekommen und einzelne Sätze voll die Tiefenwirkung finden können, die ich in ihnen auch suchte.

Hausen: Also auf die visuelle Arbeit mit den Textformen hat sich René Kaufmann gerne eingelassen. Kam aber denn Ihr oft provozierender, manchmal betont rücksichtsloser Stil beim Verlag gut an? Vielleicht hätte er sich mehr solide schriftstellerische Durchdringung der Thematiken gewünscht und weniger karikaturenartige Simplifizierung. Vielleicht auch mehr Passung zu den philosophischen Texten im Programm.

Vicončaij: Manchmal schienen durchaus gewisse Bedenken durch. Da ich viel mit Kunstprojekten unterwegs bin, und der Stil und das konzeptuelle Denken vieler der Erzählungen ohnehin mit diesen Kontexten gewachsen ist, hatte ich diese Bedenken weniger. Vielleicht, weil auch die inhaltliche Botschaft mir weniger zählt. In manchen Entscheidung war der Inhalt weniger wichtig als Atmosphäre, Färbung, Klang. Z.B. wäre es vom Inhalt her in dem zweiten Mythenblock logisch gewesen, mit der „Dialektik der Kräfte“ fortzusetzen. Nach den ersten Mythen, die auf verschiedene Weise das Weltall und die Materie überhaupt entstehen lassen, ist dieser Mythos derjenige, der das Leben, die Dialektik von Anziehung und Abstoßung und die subjektive Gegenwart einführt. Inhaltlich ist es das Hauptstück des zweiten Blocks, die abstraktere Behandlung des Themas, gewissermaßen eine „überschrift“. Nach dem bedrängenden Lärm der „Verschwörung“ schien es aber im Rhythmus geeigneter, hier einen besonders albern beginnenden Text anzuschließen, der einmal einen Kontrast setzt, und zugleich den Hell-Dunkel-Gegensatz, der in den vorangegangenen Reflexionen liegt, mit in sich aufnimmt. Das war eine Entscheidung zugunsten eines rhythmischen Verlaufs. Die Farben und Rhythmen wirken dann im wiederholten Blättern und Lesen auch viel auf die Inhalte, auf das, was wirklich gesagt wird zurück.

Hausen: Gut, ich möchte auch auf die Inhalte kommen. Was steht hinter dem Untertitel: Kindergeschichten für Erwachsene“? Es sind ja oft etwas holzschnittartige, schematische Geschichten.

Vicončaij: Wir erzählen uns alle wechselseitig Kindergeschichten. Wer in einer Branche arbeitet, färbt sein Tun schön, nach Außen. Es gibt immer Hässliches, das verborgen wird, sei es in der Politik, sei des im Finanzmanagement, sei es in der Juristerei, sei es in den Wissenschaften, sei es in der Autoindustrie oder im Verkauf, sei es in der Kulturbranche. Es gibt ein komisches Gleichgewicht, wo, sagen wir 90 Prozent Aufrichtigkeit mit 10 Prozent Unaufrichtigkeit verbunden wird. Diese 10 Prozent, sind Storchengeschichten, Feigenblätter. Wir machen uns wechselseitig zu Kindern.

Hausen: Nennen sie bitte Beispiele?

Vicončaij: „Happy without end“ ist eine Kindergeschichte über Unterwerfung und koloniale Ausbeutung.

Hausen. Das kommt aber in der Geschichte nicht vor.

Vicončaij: Eben. Eine Kindergeschichte für die, die es so haben wollen, dass Entwicklung, Fortschritt ohne schmerzhafte, moralisch ambivalente Entscheidungen möglich ist. Weil Unterwerfung in der Geschichte nicht darin vorkommt, kommt es darin vor, es ist der unausgesprochene Schatten. Man fragt sich vielleicht, warum das Mädchen keine Stimme hat. Und woher alle die Schätze kommen, die verteilt werden. Das ist alles. „Der Gerechte“ ist eine Kindergeschichte für Freunde postmodernen Denkens. „Das Genie“ eine Kindergeschichte für Freunde ungebremsten Fortschritts, „Einladung“ eine Kindergeschichte für Freunde radikaler Konzeptkunst. Und so weiter. Oder die Verschwörung: Das ist eher eine explosive Mixtur, aber auf jeden Fall eine Kindergeschichte für Menschen, die Vorwürfe und sozialen Druck mögen.

Hausen: So nehmen Sie ihre Leserinnen und Leser nicht ernst?

Vicončaij: Es gibt Lesende, die mir über die Schulter schauen, sie erfahren mich als Komplizen und werden sich ernst genommen fühlen. Andere werden sich verarscht fühlen. Und da haben sie dann vielleicht auch recht. Aber längst nicht alle Geschichten spielen mit Täuschungen.

Hausen: Sie nehmen es in Kauf, dass sich Leser verarscht fühlen, um dieses derbe, von Ihnen gebrauchte Wort zu zitieren?

Vicončaij: Mir scheint, dass wir es in der öffentlichkeit mit Kindergeschichten etwas zu bunt treiben. Es werden in Berichten oft Details skandalisiert, nicht über Optionen aufgeklärt, über Risiken und Gegenrisiken, über das, was jemand wirklich im Blick haben muss, der Verantwortungen trägt. Einseitige Darstellungen sind nochmals Kindergeschichten, selbstgerechte Simplifizierungen. Ich meine, dass wir uns Kindergeschichten erzählen, gehört vielleicht zur conditio humana. Doch ist das Täuschungsniveau so hoch, dass wir mit unseren eindimensionalen Erzählungen gefährliche Polarisierungen begünstigen. So kann eine demokratische öffentlichkeit nicht den Problemen der Zukunft Herr werden. Ein Buch wie meines ist ein passender Ort für hoch pokernde Kindergeschichten. Aus ernsten öffentlichkeiten sollten sie langsam verschwinden und milderen Täuschungen Platz machen, die mehr Raum für differenziertes Sehen liefern.

Hausen: Entsprechend einseitige Haltungen sind in „Verschwörung“ und „Christi Wiederkehr“ auch Trigger der Entzweiung und des Untergangs.

Vicončaij: Meine Täuschungs- und Untergangsgeschichten bieten Lesenden Imaginations-Angebote, sich selbst und ihre eigene Haltung in den Täuschungs- und Untergangsprozessen zu orten.

Hausen: Wenn wir bei Täuschungen sind: Welche Rolle spielen bei Ihnen die Götter? Sind sie „God Delusions“, um Dawkins berühmten Kampfbuchtitel zu zitieren? Es sind immer wieder neue Götter, die eine Welt schaffen. Auch die Protagonisten in Christi Wiederkehr sind Götter. Aber oft erfüllen sie ihre Aufgabe nicht, oder nur unvollkommen.

Vicončaij: Dawkins ist eher weniger mein Geistesgenosse. So fernliegend vielen modernen Menschen religiöses Denken sind mag, haben mythische Erzählungen doch einen hohen anschaulichen Abstraktionsgrad, mit dem wir auch heute viel verstehen können. Mit Göttererzählungen sehen wir die Welt aus einer Vogelperspektive. Prozesse von Jahrmillionen rücken zu kurzen Handlungen zusammen. Und auch, wenn die Götterwelt manchmal in Unordnung ist, bietet sie eine ruhige Perspektive in der Unruhe. Auch die begrenzten Götter in meinem Buch sind ewig, oder zumindest dem Ewigen nah, auch wenn sie begrenzter scheinen, als uns die Hochreligionen nahelegen wollen.

Hausen: Eine Hauptschwierigkeit für manche, insbesondere für religiöse Leserinnen und Leser ist das oft Lächerliche an den Figuren. Manche von Ihren Göttern sind lächerlich. Auch das Genie ist lächerlich. Der Prinz im Märchen, der Gerechte, der Richter, auch Ihre wiedergekehrten Jesusse sind in entscheidenden Momenten lächerlich. Warum?

Vicončaij: Ob sie es wirklich alle sind, weiß ich nicht. Aber sie wirken so. Gerade bei den Christusfiguren. Und, das gebe ich zu, ein bisschen habe ich nachgeholfen, dass es sie so wirken können. Meine Figuren stehen da in einer Ahnenreiche. Bei Dostojevski gibt es mal einen höchst einfältigen Narren in Christo, zu dem Massen von Menschen mit ihren Nöten pilgern, und dem nichts Besseres einfällt, als ihnen Zuckerzylinder zu schenken. über diese Szene habe ich mich ziemlich kaputtgelacht. Oder bei Carl Dreyer in „Ordet“ der verrückte Johannes, der zu viel Kierkegaard gelesen hat, sich für Christus hält und Evangelien rezitiert. Aber am Ende tatsächlich ein totes Mädchen zum Leben erweckt. Tarkovskijs Otto der Postbote in „Opfer“, ein Spinner, der am Ende recht zu behalten scheint. Auch höchst lächerlich.
Und eine ambivalente Reibung zwischen sakralem und Lächerlichem habe ich z.B. schon vor mehr als zehn Jahren in Audiowalks und in einem Theaterstück mitkreieren dürfen, wo ich die Aufgabe hatte, Sakralmusik zu albernen Texten zu komponieren. Es war ein Tauziehen zwischen Slapstick und existenziellem Ernst. Ich hatte immer versucht, meinen echten Ernst, ein authentisches Pathos in diese Stücke zu tun, die eigentlich, durch die ironische Rahmung, immer schon in der Falle waren. So auch jetzt. Der Ernst darin ist echt. Auch wenn ich selbst die Falle aufgebaut habe: Um das Tauziehen geht es mir auch hier. In die Christusfiguren habe ich wirklich etwas gesucht, was wie ein sprachlicher Platzhalter für ein eine Vision des Ewigen im Diesseits, eine Vision des Himmels auf Erden wirken kann.

Hausen: Gefährdet diese Ambivalenz nicht die Fähigkeit zu authentischer religiöser Erfahrung?

Vicončaij: Ich denke, die Religiöse Erfahrung mit ihrer Unbedingtheit und Bedeutsamkeitstiefe wird nur sehr oberflächlich durch Ironie gefährdet. Das Lachen in Ecos „Name der Rose“, um ein bekanntes literarisches Beispiel zu zitieren, gefährdet weniger die religiöse Erfahrung, als die Autorität bestimmter Institutionen. Auch wenn das Eine mit dem Anderen zusammenhängen mag, ist es nicht dasselbe. Tatsächlich denke ich, dass sich die Institutionen ändern, auf neue Situationen anpassen sollten. Aber der Kern religiöser Erfahrung bleibt vermutlich gleich, oder zumindest ähnlich.

Hausen: Wie sehen Sie ihr Verhältnis zur Romantik und zur romantischen Ironie?

Vicončaij: Ein irischer Denker, Kevin Mulligan nannte die romantische Ironie mal eine Krankheit. Es ist wohl dieses sich einerseits auskostend auf eine Imagination, einen Traum, eine Selbsttäuschung einlassen, diese voll auskosten, und dann mit der Ironie sich wieder davon distanzieren. Das hat etwas Labiles, und wirkt nicht so ganz prall gesund. Hoffmans „Der goldene Topf“ ist für mich das Dresden-Buch und hat viel von dieser ungesunden Ironie. Ich habe es zwar aufgrund einer gewissen Aufdringlichkeit nie so richtig gemocht, aber die Idee, dass jemand (der Student Anselmus) von einer Hexe verflucht und verzaubert wird und dann immer wieder in einer Flasche festgehalten wird, ist ebenso genial, wie am Ende etwas vom Tonfall des Buchs doch auch mein Schreiben erreichte. Es gibt bei Robert Walser etwas, das der romantischen Ironie verwandt ist, und seine kurze Geschichte „das Genie“ ist Pate für meine Geschichte. Aber sowohl Walser als auch Hoffmann gehen in der genussvollen Imagination weiter als ich. Meine Ironie ist eher eine strukturelle: Ich nehme mir etwas vor, eine Kontrastbildung wie bei Ines in Christi-Wiederkehr, die Partywelt, die Sexualprestigekultur auf der einen Seite, und die Sprache der Erlösung auf der anderen Seite. Das Aufeinandertreffen der Sphären ist selbst ironisch. Da brauche ich nicht noch eine ironische Haltung oder ein ironisches Gefühl dazu. Die Sachen selbst sind ironisch. Hegel schätzte die romantische Ironie nicht, da sie das Hohe niedrig mache. Und Hegel war der Meinung, dass Kunst das Göttliche zum Thema hätte. Ich kann, sozusagen in der Spur Adornos, den Bruch nicht überspielen. Wenn es um das Göttliche geht, kann es auch, oder vielleicht nur trotz der Brüche, durch sie hindurch erscheinen.

Hausen: Eine Ambivalenz scheint bei Ihnen Konzept.

Vicončaij: Ambivalente Spannungen sind interessant, weil sie einen kleinen Ereignis einen große Resonanzraum geben können, der viel größer ist. Ambivalente Situationen sind wie Verstärker, die kleine Ereignisse mit großen Effekten ermöglichen. Die Mythen erzählen von Weltentstehungen und Weltveränderungen. Ambivalenz bietet einen Boden dafür.

Hausen: Verstecken Sie da nicht auch eine eigene Unentschiedenheit hinter einem vordergründigen Witz und enthalten sich einer Verantwortung?

Vicončaij: Einerseits ja. Ich übernehme nicht Verantwortung für Inhalte und Themen, die mir zu groß sind. Aber – Vielleicht unterschätzt du die welterschließende Kraft des Lachens. Komische Bilder können Verstehen stärken. Davon bin ich überzeugt. Sie haben manchmal eine Anziehungskraft, sorgen dafür, dass deine Imagination sie immer wieder aufsucht, Und an solchen Bildern versammelt sich dann dein Erinnerungen und Erfahrung. Aber klar, oft belustigen mich einfach Ideen zu Texten, sie begeistern mich, weil sie mich belustigen. Ich stelle mir nicht die Frage, ob der Text dann einen Benefit hat oder nicht. Ich frage mich, ob er sich selbst trägt, oder im Bund mit anderen Texten etwas zum lebendigen Gesamtbilds beiträgt.

Hausen: In einer Art Vorwort sprechen Sie von Einsichten. Wo finden wir Ihre Einsichten in „Christi Wiederkehr“?

Vicončaij: In den Lücken. Es gibt passende Puzzlestücke dazu in anderen Texten den Buches. Ich glaube, dazu braucht es das Erleben der Ambivalenzen, und vielmaliges Kommen-Lassen der Bilder, vielmaliges Nachdenken, damit sich die passenden Bruchstücke zusammenfinden können. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.
Aber was Grundgedanken oder Hintergrundgedanken angeht – Du hast ja selbst in deinem Nachwort einige Vorstöße gewagt. Es ist voll von Anspielungen auf deine eigenen Sachen. Ich meine, wenn ich mal auf deine Liste von Büchern und Essays schaue, finde ich da viele Wörter wieder: Ich finde die Phänotheologie, die biologische Basis des Geistigen, also Psychobiologie, ich finde Sinn, ich finde Wert. Ich bin mir nicht sicher, ob ich über all das geschrieben habe und gewinne fast den Eindruck, als hättest Du das Nachwort nutzen wollen, für Deine eigenen Produkte Werbung zu haben, ha ha,...

Hausen: Nun tun Sie nicht so, als hätte ich mich aufgedrängt! Sie hatten mich um das Nachwort gebeten…. Dass ich zu bestimmten Themen publiziert habe, gibt mir dabei eine gewisse Sicherheit, mit den Begriffen umzugehen… d.h. ich kann die Dinge, die damit sage, von meinem Hintergrund aus ganz gut verantworten...

Vicončaij: Kein Problem, ha, ha, schon recht. Es ist ja richtig, dass du deine Perspektive von dem Hintergrund aus entfaltest, den du dir erarbeitet hast. Gut, dann erzähle mal, wie du zu den Inhalten in Deinem Nachwort gekommen bist.

Hausen: Ich habe natürlich selbst Leseeindrücke und wir haben ja in den letzten Jahren wiederholt korrespondiert. Natürlich habe ich einige Dinge, gerade die konzeptuelle Seite einiger Texte, eher Ihren Selbstaussagen entnommen. Und ich hatte auch mit anderen, die manche Ihrer Texte kannten, gesprochen und deren Leseeindrücke gesammelt, die ich dann für die Leserseite beanspruchen konnte. Mehr kann ich da nicht sagen.

Vicončaij: Und dein philosophischer Input?

Hausen: Mir fiel es sehr schnell auf, dass Ihre Welten, Sinnhorizonte sind. Dass also Sinnkosmen entstehen. Das ist vor allem im dritten Mythenblock deutlich, den Sie ja selbst der Kulturthematik zuordnen. Es ist wie mit Goodmans Pluralismus und seinen „Weisen der Welterzeugung“.

Vicončaij: Goodman habe ich nie gelesen, aber den Titel schon gehört. Und ich weiß, dass er zu den Konstruktivisten gezählt wird. Das passt wohl ganz gut. Aber die Sache mit den Sinnsphären? Du hast ein dickes Buch über Sinn und Wert geschrieben. Warum kennt man es nicht?

Hausen: Ich denke, dass es wenig leserfreundlich geschrieben ist. Die Materie hatte ich mit meiner Doktorarbeit noch nicht gut genug durchdrungen, um sie auf einfachere Gedankenfiguren herunterbrechen zu können.

Vicončaij: Und über Psychobiologie hast du auch geschrieben. Und einen Aufsatz über Phänotheologie, eine alternative Theologie, die Gott in der Biosphäre verortet und nicht außerhalb der Welt. Und eine eigene Moralphilosophie behauptest du, entwickelt zu haben. Zudem noch eine hermeneutische Methode, die Potenzialermessung, die, wie du sagst, Sinnpotenziale erwägt. Warum tust du nicht mehr dafür, deine Ansätze bekannter zu machen oder auch nur besser in der öffentlichkeit aufzustellen?

Hausen: Das ist eine gute Frage. Aber ich bin nicht hier, um auf Ihre Fragen zu antworten, sondern dazu, Fragen an Sie und Ihr Buch zu stellen. Ich bin auch schon fast fertig und möchte Ihnen noch eine letzte Frage stellen: Was wünschen Sie sich von Ihrem Buch und Ihren Leserinnen und Lesern?

Vicončaij: Das diejenigen, denen das Buch missfällt, sich nicht zu lange damit rumärgern. Und sich nicht beleidigt fühlen, weil es ihre Sicht und Lebensart vielleicht nicht versteht. Aber vor allem wünsche ich mir, dass es Leser findet, die in meinen Texten einen Spiegel ihrer Erfahrungen finden und den Bildern etwas abgewinnen können.

Hausen: Herr Vicončaij, ich denke Ihnen für das Gespräch.

© Friedrich Hausen

Text & Dialog

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