Produktbeschreibung
Rolf Kühn, „Ich kann“ als Grundvollzug des Lebens. Analysen zur material-phänomenologischen Handlungsstruktur
ISBN: 978-3-943897-65-4
Einband: Paperback; Seiten/Umfang: 406 S.
Preis: 29,90 Eur (D) mit MWSt.
Da unser Leben in einem ständigen Vollzug seiner selbst besteht, ist es durch ein je unmittelbares Empfinden des „Ich kann“ bestimmt. Als originäre Verwirklichung liegt eine solch rein phänomenologische Bestimmung jeglicher reflexiven Motivations- und Intentionalanalyse unseres Wollens und Handelns voraus. Dies wird einerseits durch Untersuchungen zu Maine de Biran, Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche und Freud verifiziert sowie andererseits durch zentrale Bereiche wie Arbeit und Kunst. Das individuelle Erleben eines „Nicht-Könnens“ lässt die Frage nach Symptom und Sublimierung stellen, und zwar im Zusammenhang mit unserer subjektiven Leiblichkeit als Kraft und Affekt im lebensphänomenologischen Sinne. Als Einleitung ist ein Text von Michel Henry über „Potentialität“ als Grundgegebenheit eines originär „praktischen Cogito“ vor jedem „Ich denke“ beigegeben, was als Leitfaden dienen kann.
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
Einleitung: Potentialität (Michel Henry)
TEIL I: KÖNNEN UND WOLLEN
1 „Ich kann“ und Wille bei Maine de Biran und Schopenhauer
1.1 Die praktisch-transzendentale Individuierung bei Maine de Biran
1.2 Wille als „Leben-Wollen“ und Leiblichkeit gemäß Schopenhauer
1.3 Affektivität und principium individuationis
2 Gewissheit und Verzweiflung – mit Blick auf Kierkegaard
2.1 Das Gutsein des Lebens
2.2 Leben als Leiblichkeit und Mitpathos
2.3 Verzweiflung als „tödliche Krankheit“
3 Der „Wille zur Macht“ als Ur-Leib bei Nietzsche
3.1 Der „Wille zur Macht“ als Selbstermächtigung des Lebens
3.2 Schwäche und Lebenssteigerung
3.3 Das „Mehr“ des Lebens als Fülle des „Ich kann“
4 Resignation und Ananké gemäß Freud
4.1 „Realität“ und „Resignation“
4.2 Die Kultur zwischen Eros und Thanatos
4.3 Realität und Sublimierung
TEIL II: KÖNNEN UND HANDELN
5 Bedürfen, Begehren und Arbeit
5.1 Bedürfen als Singularisierung
5.2 Ökonomie und Bedürfen als Warengenese
5.3 Kapitalismus und Entfremdung
6 Kunst als „innere Notwendigkeit“
6.1 Das Minimum als Maximum
6.2 Das Absolute in Kunst und Kultur
6.3 Leib und ästhetische Bewegung
7 Symptom und Reales
7.1 „Sinthomale Weisheit“ nach Lacan
7.2 Symptom, Selbstaffektion und Begehren
7.3 Aktvollzug als „Ich kann“-Transparenz
8 Sublimierung in Mystik und Ästhetik
8.1 Sublimierung, Phallus und Narzissmus
8.2 „Libidinöse Ökonomie“ innerhalb von Kur und Kultur
8.3 Wiederholung als „elastische Logik“
Ausblick: Leiblichkeit als individuiertes „Können zu können“
Bibliographie
Vorbemerkung
Der grundsätzliche Zusammenhang zwischen dem rein phänomenologischen Leben und dem „Ich kann“ besteht in der Priorität des praktischen Cogito vor dem theoretischen „Ich denke“. Die Wegbereiter einer solchen Analyse sind – nach Descartes – vor allem Maine de Biran, Schopenhauer, Nietzsche sowie Husserl und Henry, insoweit bei ihnen allen subjektiven Bewusstseinsleistungen eine passible Empfängnis des Lebens vorausliegt, welche mit einem transzendentalen Verständnis von Leiblichkeit als Selbstimpressionabilität identisch ist.
Wir stellen daher unseren einzelnen Kapiteln zu einer solchen Analytik originärer Handlungsstruktur einen Text von Michel Henry über die „Potentialität“ voran, worin die material-phänomenologischen Gegebenheiten von Können/Handeln wegweisend thematisiert wurden. Die weiteren Untersuchungen zur ursprünglichen Wirklichkeit des „Ich kann“ als einem permanent vollzogenen Vermögen sind Vertiefungen dieser Grundgegebenheit durch die zuvor genannten Denker, einschließlich Kierkegaard und Freud wie Lacan. Als Leitmotiv kann insgesamt daher der Aphorismus 326 aus Nietzsches „Morgenröte“ dienen: „Unsere Kräfte können wir abschätzen, aber nicht unsere Kraft.“
Die maßgebliche Identität von Kraft und Leben als zeitvorgängige Einheit des „Ich kann“ wird dann im Teil II durch zwei entscheidende Bereiche des Handelns illustriert – durch Arbeit und Kunst, in denen sich zugleich auch die zentrale Frage nach der Funktion von Symptom und Sublimierung innerhalb eines jeden Tuns stellt. Denn das „Ich kann“ folgt im Sinne der ständig immanenten Selbstbewegung des Lebens keinem kausalen Prinzip, sondern bildet die in sich nicht fixierbare Oszillation aller Empfindungen, Affekte und Triebe, die sich in der Originarität des Lebens als Freude/Schmerz entfalten. Das Symptom ist dann ein Anzeichen dafür, dass eine de-ontologisierte Modalisierung des inneren „Ich kann“ auf Verwirklichung wartet, um nicht bei Verzweiflung und Selbstzerstörung stehen zu bleiben. Vielmehr will prinzipiell jedes Können als subjektive Praxis weiterwachsen, wovon auch der Begriff der Sublimierung zeugen kann.
Insofern mithin ein Handlungsvollzug ohne das je unthematische Grundempfinden des „Ich kann“ nicht möglich ist, bildet jede unsichtbare Kraft als unmittelbarer Affekt die schweigende Präsenz der Leiblichkeit als jenem nie abwesenden Können, in dem sich die Offenbarung unseres Lebens von Augenblick zu Augenblick wechselhaft ereignet, um sich als konkret erfasste Möglichkeit selbst zu bejahen. Da durch dieses rein praktische Cogito jedes Erscheinen in seiner Selbstimpressionabilität als subjektive Empfindung und Bewegung bestimmt ist, bedeutet dieses „Ich kann“ gleichursprünglich die leiblich-affektive Erschließung von Welt vor allen intentionalen oder ethischen Entwürfen und Stellungnahmen. Letztere bleiben durch die reine Lebenssituativtät des ins Werk gesetzten „Ich kann“ stets singulär geprägt, das heißt unverwechselbar in ihrer je individuierten Färbung. Auf diese Weise ist eingelöst, dass das konstitutiv subjektive Können den radikal phänomenologischen Grundvollzug des Lebens schlechthin bildet, wodurch dieses sich im Sinne der selbstaffektiven Ur-Ipseisierung gibt wie empfängt, ohne weitere spekulative oder metaphysische Prämissen voraussetzen zu müssen.
Die Analyse zum „Ich kann“ gemäß der intentionalen Konstitutionsphänomenologie Husserls haben wir bereits in unserem vorherigen Werk „Leben als Präsenz und Immanenz. Hinführung zu Grundfragen der Phänomenologie“ (2021) dargestellt, so dass wir hier darauf verweisen können. Für ausführliche Stellungnahmen zu Freuds Theorie und Praxis bleiben zwei Arbeiten aus dem gleichen Zeitraum zu erwähnen: „Psychoanalyse, Philosophie und Religion – wer leitet die Kultur?“ (2020) sowie „Primärerfahrungen, Ursprung und Nachträglichkeit. Grenzgänge zwischen Psychoanalyse und Phänomenologie“ (2021). Insofern betten sich die Untersuchungen zum „Ich kann“ als Grundvollzug des Lebens in einen größeren Forschungszusammenhang ein, in den auch das Werk „Alles, was leiden kann. Zur Ursprungseinheit von Freude und Leid“ (2019) mit einzubeziehen ist.
Insgesamt liegt somit in den drei Bänden zu Leid/Freude, Präsenz/Immanenz und Können/Handeln eine Trilogie vor, welche als Ausarbeitung zur originären Phänomenalisierung zugleich als eine vertiefte Plausibilisierung des lebensphänomenologischen Ansatzes im Gespräch mit der vor-phänomenologischen Tradition sowie der kulturellen Aktualität gelesen werden kann.
Rolf Kühn
Freiburg-im-Breisgau, Sommer 2021
Diesen Artikel haben wir am 28.05.2024 in unseren Katalog aufgenommen.